Zur Geschichte des Albaniplatzes

„Zeit“ ist – und das ist erst einmal gewöhnungsbedürftig – eine mentale Konstruktion, denn der menschliche Geist kann immer nur im Augenblick tätig sein. Grundlage unseres menschlichen Tuns ist das nachträgliche Bewerten dessen was wir „Vergangenheit“ nennen. Zu dem gesellt sich das Lernen aus dieser Bewertung und dem darauf aufbauenden Planen dessen, was wir „Zukunft“ nennen. Aber all das geschieht im Augenblick. Es ist zutiefst menschlich, dass so in unserer Gedankenwelt ein Zeitstrahl entsteht, der zwischen den drei Ebenen einen Kausalzusammenhang herstellt. Deshalb fällt es uns auch schwer, die Quantenphysik und die Theorie der Raum-Zeit-Krümmung zu verstehen; dieser Aspekt soll darum auch hier keine Rolle spielen.

Seit ich 1984 zum Studium nach Göttingen kam, habe ich mich als Archäologin, Historikerin, Kulturwissenschaftlerin mit Regional- und Stadtgeschichte beschäftigt, und aus dieser Position heraus möchte ich einiges zur Geschichte des Platzes beitragen, an dem das „Göttinger Buch der Zukunft“ entsteht.

| Albanikirche 2014 | Foto: Gudrun Keindorf |

Benannt ist der Platz nach der Albanikirche, einer gotischen Hallenkirche aus dem 15. Jahrhundert. Eine erste Kirche stand an dieser Stelle vermutlich schon im 10. Jahrhundert, eventuell sogar noch früher. Im Bereich zwischen Albanikirche, Friedländer Weg, Geismar Tor und heutigem Wochenmarktplatz lag das 953 erstmals erwähnte Dorf Gutingi. Die archäologischen Ausgrabungen weisen jedoch auf Anfänge bis um 700 nach Christus zurück. Derartige Ausgrabungen finden immer dann statt, wenn die historischen Zeugnisse in der Erde durch Baumaßnahmen gefährdet sind. Es handelt sich um eine kontrollierte und dokumentierte Zerstörung, denn nach der Ausgrabung sind die Erdschichten und baugeschichtlichen Relikte ja nicht mehr vorhanden. Wir wissen also nicht, ob die Stelle, an dem das „Buch der Zukunft“ entsteht, in dieser Zeit Acker, Garten, Straße, Haus oder Wirtschaftsgebäude getragen hat.

Wir wissen auch nicht genau, wer diese frühesten Göttinger*innen waren, denn die damaligen „Sachsen“ waren eine weitestgehend schriftlose Kultur. Die Christianisierung erfolgte dann sukzessive im 9. Jahrhundert. Die Wahl des Patroziniums – Kirchen wurden im Mittelalter stets nach Heiligen benannt – weist auf das Erzbistum Mainz, denn dort hatte der Missionar Alban im frühen 5. Jahrhundert sein Martyrium erlitten. Er starb für seinen Glauben und wurde deshalb vom Papst heiliggesprochen. In der Vorstellungswelt des Frühmittelalters wird mit der Übertragung des Namens (und vermutlich auch einer Reliquie) auch die geistige Unterstützung des Heiligen auf die neue Kirche übertragen. Deshalb war der Hl. Alban als Patron für eine Kirche im sächsischen Missionsgebiet gut geeignet.

Die Bezeichnung „Albaniplatz“ wurde allerdings erst am 20. März 1951 festgeschrieben.

Göttinger Straßennamen / Gerd Tamke, Rainer Driever . – 3., neu überarbeitete, wesentlich erweiterte Auflage – Göttingen, 2012. (Veröffentlichungen des Stadtarchivs Göttingen; 2). Screenshot der Online-Ausgabe, die vom Stadtarchiv Göttingen kostenlos zur Verfügung gestellt wird.

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Zwischen Gutingi und diesen Umbenennungen des 20. Jahrhunderts liegt die Entstehungsgeschichte der heutigen Altstadt seit dem 12. Jahrhundert. Die Stadtmauer befand sich damals westlich des Platzes, so dass die Albanikirche sich vor der Stadt befand. Im Bereich der Wendenstraße sind Reste der Stadtmauer noch zu erkennen. Mit dem Bau des Walls im 15. Jahrhundert wurde die Albanikirche dann quasi eingemeindet.

| Reste der älteren Stadtmauer in der Wendenstraße 2014 | Foto: Gudrun Keindorf |

Eine mittelalterliche Stadt hat immer zwei – sich eigentlich widersprechende – Grundbedürfnisse: sie ist offen für den Handel und geschlossen für die Verteidigung. Darum ergänzen sich in Göttingen breite, gerade Straßen mit Verengungen und Verschwenkungen im Bereich der Stadttore. Und genau dort, wo jetzt der Arbeitsplatz ist, befanden sich seit dem späten 15. Jahrhundert Nebengebäude des äußeren Albanitores. Auf unserem Zeitstrahl begegnen uns auf der Straße friedliche Handelsströme ebenso wie wilde Kriegshorden. So wissen wir, dass 1626 im Dreißigjährigen Krieg der berüchtigte Generals Tilly die Stadt vom benachbarten Lohberg aus beschossen hat. Göttingen musste kapitulieren, und am 8. August 1626 zog Tilly durch das Albanitor siegreich in die Stadt ein. Auf die Besetzung folgten Rauben, Sengen, Morden, Hungersnöte und Epidemien. Mit den Menschen ging auch technisches Knowhow verloren, die Wirtschaftskraft und damit die Bedeutung als Handelsort sank rapide. Erst die Gründung der Universität 1737 sorgte dafür, dass neue Leute mit neuen Ideen und das nötige Geld für Investitionen in die Stadt kamen.

Die „Alte Universitätsbibliothek“ mit der Paulinkirche am Papendiek war ursprünglich ein Dominikanerkloster, das nach der Reformation im 16. Jahrhundert als Pädagogium diente. Dieses wurde im 18. Jahrhundert zugunsten der neu gegründeten Georg-August-Universität aufgegeben. In den Nachbarstraßen entstanden neue Wohnhäuser für Professoren und Studenten.

| Blick vom Nordturm der Johanniskirche auf das Universitätsquartier 2015 | Foto: Gudrun Keindorf |

Für einige Zeit herrschte Frieden, die Stadt veränderte ihr Gesicht, der Handel florierte. Doch erneut kam es zu einer kriegerischen Unterbrechung. Im Siebenjährigen Krieg (1756-1763) wurde die Stadt erneut belagert und erobert. Es wuchs die Erkenntnis, dass mit den spätmittelalterlichen Befestigungsanlagen keine erfolgreiche Verteidigung mehr möglich war. Darum wurden die dem Wall vorgelagerten Bauten zurückgebaut und der Wall zur Promenade umgestaltet. Auch das Stadttor wurde abgerissen und durch eine einfachere Variante ersetzt.

Dort, wo sich heute die Stadthalle befindet, entwickelte sich im Verlauf des 18. Jahrhunderts Ausflugsgastronomie, die wir heute als „Biergarten“ bezeichnen würden. Der Name wechselte jeweils mit dem Betreiber, der Zusatz „Garten“ blieb gleich. 1824 verewigte Heinrich Heine das zu seiner Zeit „Ulrichs Garten“ genannte Etablissement in seiner „Harzreise“. Hier hat er nachweislich viel Zeit verbracht und wohl auch Teile des Werkes verfasst. Heine – er hieß ursprünglich Harry und stammte aus einer jüdischen Kaufmannsfamilie in Düsseldorf – hat in Göttingen Jura studiert. Hier fasste er auch den Entschluss, zum evangelischen Christentum zu konvertieren. Umgesetzt hat er ihn diskret in Heiligenstadt.

Der Blick ins 20. Jahrhundert führt zu der bitteren Erkenntnis, dass die NSDAP bereits Anfang der 20er Jahre in Göttingen große Erfolge verbuchen konnte. Entsprechend zügig wurde dann auch im März 1933 die Bezeichnung „Adolf-Hitler-Platz“ eingeführt. Am 10. Mai 1933 brannten hier die Bücher. Auch die Werke Heinrich Heines, und mit ihnen die „Harzreise“, landeten auf dem Scheiterhaufen. Es dürfte schwer fallen, einen anderen Ort in Deutschland zu finden, an dem die Schaffung einer kulturellen Leistung und ihre ideologische Zerstörung räumlich so nah beieinanderliegen wir in diesem Fall. Auch das Heine-Zitat auf der Gedenktafel am nördlichen Ende des Platzes, ist hier in Göttingen entstanden. Es stammt aus der Tragödie „Almansor“, einem Toleranzstück in der Tradition von Lessings „Nathan der Weise“, und bezieht sich auf eine Koranverbrennung im Zeitalter der „Reconquista“, der sogenannten „Wiedereroberung Spaniens von den Mauren“ um 1500.

| Gedenktafel an der nördlichen Stützmauer des Albaniplatzes 2014 | Foto: Gudrun Keindorf |

Die Historikerin könnte an dieser Stelle noch viele Fakten über die „Stunde Null“ und die Nachkriegszeit ergänzen. Stattdessen möchte die Projektteilnehmerin lieber ein individuelles und subjektives Fazit ziehen. Wie so viele Babyboomer bin ich aufgewachsen mit Schönfärberei und Schweigen über die Vergangenheit. Als Kriegsenkelin habe ich meine Familiengeschichte angeschaut. Und was ich herausfand bestärkte mich in meiner aus dem Studium der Geschichte erwachsenen Grundhaltung: Nie wieder Krieg! Nie wieder Faschismus!“

Dass nun an diesem Platz, der so von Krieg und Frieden und vom Gräuel der NS-Zeit geprägt ist, das „Göttinger Buch der Zukunft“ entsteht, hat für mich eine ganz besondere Bedeutung. Als wir in unserer Facebook-Gruppe anfingen, das Thema zu besprechen, hatte niemand von uns eine Ahnung, dass in naher Zeit und in unserer Nachbarschaft ein Krieg und Völkermord ausbrechen würde. Wenn ich auf die Agressoren dieser Welt schauen, möchte ich manches Mal an der Menschheit an sich zweifeln. Der Blick in die Vergangenheit so gut wie der auf die Gegenwart lässt für mich nur einen Schluss zu: Kooperation führt uns weiter, Konfrontation in eine Sackgasse. Dann sehe ich mich erneut um und finde die anderen, die die es schafften und schaffen, Konflikte zu beenden, neu und miteinander Wege in eine friedliche und gemeinsame Zukunft zu bahnen. Und wenn ich in unserem „Buch der Zukunft“ nur ein einziges Wort hineinschreiben dürfte, dann wäre es das Wort „Frieden“.

Eddigehausen, 12. Januar 2023

Dr. Gudrun Keindorf